Die sogenannte Bibliotherapie – die gezielte Lektüre bestimmter Bücher - im Rahmen der Behandlung diverser psychischer Probleme nimmt bereits seit Jahrzehnten einen legitimen Platz in der klinischen Praxis ein.
Die Möglichkeit, das Buch therapeutisch einzusetzen, geht gemäß dem Neurologen und Psychotherapeuten Viktor E. Frankl (1905-1997) weit über das Pathologische hinaus.
In seiner Festrede* „Das Buch als Therapeutikum“ stellte er fest: „So vermag das Buch etwa in existenziellen Krisen – von denen ja niemand verschont bleibt – einfach Wunder zu wirken. Das rechte Buch zur rechten Zeit hat viele Menschen vor dem Selbstmord bewahrt, und davon wissen wir Psychiater sehr wohl ein Lied zu singen.“ In diesem Sinne leistet ein Buch echte Lebenshilfe.

Frankl berichtet über Briefe, die in extremen Notlagen (wie z. B. in einem Gefängnis) geschrieben wurden - …in all diesen Briefen wird rührend zum Ausdruck gebracht, wieviel irgendein Buch, ja auch nur ein einzelner Satz, gerade in einer solchen Situation äußerer Abgeschlossenheit und innerer Aufgeschlossenheit bedeuten konnte.
Solche therapeutischen Erfolge sind noch bedeutender, wo immer sich eine Gruppe zusammenfindet, um Bücher gemeinsam zu studieren und dann zu diskutieren.
Ein Häftling aus dem Staatsgefängnis Florida schrieb Viktor Frankl über seine Erfahrungen einer Gruppenlektüre seiner Bücher: Was dort geschah, grenzte an
ein Wunder. Menschen, die hilflos und hoffnungslos gewesen waren, fanden einen neuen Sinn in ihrem Leben. Hier, im Gefängnis mit den härtesten Sicherheitsvorkehrungen von ganz Florida, nur ein
paar hundert Meter entfernt vom elektrischen Stuhl, stellen Sie sich vor, hier werden unsere Träume wahr...
Der Lesehunger der Jugend ist bekannt – stellt Frankl weiter fest. Instinktiv weiß sie um die Kraftquellen, die ihr da zur Verfügung stehen. Zur Illustration erzählt er dann noch eine berührende Geschichte aus dem KZ Theresienstadt, wo in der Nacht vor dem Abtransport tausend junger Menschen nach Auschwitz in die Lagerbücherei eingebrochen wurde. Jede von den Todgeweihten hatte sich Werke ihrer Lieblingsdichter, aber auch wissenschaftliche Bücher als Reiseproviant auf die Fahrt als eine Art geistige Nahrung in den Rucksack gestopft…

Zu den Aufgaben der Literatur gehört es laut Viktor E. Frankl, jenseits der Wirklichkeit eine Möglichkeit aufleuchten zu lassen und die Möglichkeit einer Umgestaltung der Wirklichkeit aufzuzeigen.
Die Welt liegt im Argen und sie ist nicht heil - stellt Frankl weiter fest - aber ihm als Arzt wiederstrebt es, dabei bewenden zu lassen. Die Welt ist nicht heil, aber heil-bar... ist er überzeugt, und die Literatur könnte dabei ein Heilmittel werden und hat die Aufgabe am Kampf gegen die Krankheit des Zeitgeistes – dem Sinnlosigkeitsgefühl – teilzunehmen. Denn "nichts vermöchte die Sinnfindung katalytisch so sehr in Gang zu bringen wie das Buch."
In diesem Sinne fordert er: „Wenn der Schriftsteller nicht fähig ist, den Leser gegen Verzweiflung zu immunisieren, dann soll er es doch wenigstens unterlassen, ihn mit Hoffnungslosigkeit zu infizieren.“

Im Gegensatz zu den Massenmedien und dem Sich-berieseln-lassen, zu dem sie den Menschen verleiten, fördert das Buch das Selektiv-sein. Ein Buch können Sie nicht wie ein Gerät einfach aufdrehen und abschalten, für ein Buch müssen Sie sich erst entscheiden. Sie müssen es kaufen, es lesen und zwischendurch innehalten, um es auch zu überdenken.
Auf diese Weise schüttet der Mensch Inseln auf, auf denen er nicht nur sich unterhalten, sondern auch sich
besinnen, nicht nur sich zerstreuen, sondern auch sich sammeln kann.
Das Lesen verhilft ihm nicht nur zur Flucht vor sich selbst, vor seiner eigenen Leere, sondern - auch im Gegenteil - sie lässt ihn „zu sich kommen“ - ganz im Sinne von den heute so populären diversen achtsamen Stressbewältigungs-Strategien.
„Das Lesen entlastet uns vom Leistungsdruck, von der Viva activa, und ruft uns zurück in die Viva contemplativa, ins beschauliche Dasein, wenn auch von Zeit zu Zeit" – so Frankl weiter, der zum Zeitpunkt seiner Rede noch nichts von den Herausforderungen unseres digitalen Zeitalters mit all seiner Multitasking-Hektik und seinen Reizüberflutungen ahnen konnte.
Der Buchhandel hat wiederum die Verantwortung, dass er „dem Menschen seinem Willen zum Sinn, der heute so frustriert ist, zunächst einmal überhaupt erst zumutet“ - ebenfalls wie dieses oder jenes (anspruchsvolle) Buch - ganz im Sinne von dem Goethe-Zitat: “Wenn wir den Menschen so nehmen, wie er ist, machen wir ihn schlechter. Wenn wir ihn aber so nehmen, wie er sein soll, dann machen wir ihn zu dem, der er werden kann."

*Aus dem Festvortrag zur Eröffnung der Buchwoche ´75 in der Wiener Hofburg, abgedruckt im:
Viktor E. Frankl: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn: Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, Piper Verlag München, 1979