"Meine Wunden wurden ein Teil dessen, was ich heute bin..."
Ein aktuelles Interview mit der „weiblichen Stimme“ von Viktor Frankl

Dr. Edith Eva Eger ist Psychologin und Therapeutin mit einer Praxis in La Jolla, Kalifornien. Der Fokus ihrer Arbeit liegt auf postraumatischen Belastungsstörungen.
Sie unterrichtet an der University of California, San Diego und ist eine international gefragte Rednerin. Ihr erstes Buch „Ich bin hier und alles ist jetzt“, in dem sie ihre tragischen Holocaust-Erlebnisse verarbeitet, war ein internationaler Bestseller.
Edit Eger wird auch die „weibliche Stimme Viktor Frankls“ genannt - den sie als ihren „hochverehrten Mentor, Freund und Mitüberlebenden von Auschwitz“ bezeichnet.
Mit Frankl teilt sie die Überzeugung, „dass unsere schlimmsten Erfahrungen unsere besten Lehrer sein können, die uns neue Möglichkeiten und Perspektiven eröffnen".
Autorenfoto: (c) Jordan Engle
Die bekannte Trauma-Expertin und Rednerin, die trotz ihres hohen Alters noch fast täglich inspirierende Interviews gibt und mit ihren jüngeren KollegInnen und ihrer weltweiten Fangemeide via Video-Konferenzen diskutiert, beantwortet im nachfolgenden Beitrag die Fragen des Journalisten der Medienplattform 24.hu, Márton Jankovics:
"Wir sollten nicht versuchen, Trauer zu heilen, denn es gibt keine Heilung für ein gebrochenes Herz - sagt Edith Eva Eger. Wenn sie in Auschwitz etwas gelernt hat, ist es das, das es genauso wichtig ist, die Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit zu bewahren."
Sie war erst 16 Jahre alt, als sie und ihre Familie in 1944 von den Nazis aus Kaschau (ungarisch Kassa / slowakisch Košice) deportiert wurden. Sie überlebte Gefangenschaft und Krieg, wanderte nach Amerika aus und wurde Psychotherapeutin - aber es dauerte viele Jahrzehnte, bis sie sich ihren eigenen Traumata stellen konnte.
Ihre spirituelle Reise hat sie in ihrem Buch The Choise (deutsch: „Ich bin hier und alles ist jetzt“) aufgearbeitet, durch das sie im Alter von 90 Jahren auf einen Schlag zur weltweit gefeierten Autorin wurde. Inzwischen ist auch ihr zweites Buch The Gift („Das Geschenk / 12 Lektionen für ein besseres Leben“) erschienen.
Die 94-jährige Psychotherapeutin aus Kalifornien haben wir über Zoom gefragt, ob es Sinn macht, über Entscheidungsfreiheit zu sprechen, wenn das Leben eines Menschen kurz vor dem Zusammenbruch steht, warum man Menschen in Schwierigkeiten nicht aufmuntern sollte und warum sie auch auf ihrem Sterbebett glücklich sein wird.
Sie sprechen aus San Diego, aber Sie sind in Kaschau geboren und bis zum 2. Weltkrieg und dem Holocaust dort aufgewachsen. Wie fühlen Sie sich jetzt, wenn Sie sich die Bilder ansehen, dass in der Region wieder ein verheerender Krieg herrscht und in Košice bereits Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen werden?
Ich denke, die Geschichte hat die Tendenz, sich zu wiederholen. Es ist, als würde man 1939 noch einmal sehen, aber ich hoffe aufrichtig, dass ich mich irre. Im Krieg verlieren alle. Alle. Der Gewinner verliert auch, und viele Menschen sterben umsonst.
Ich denke, man sollte die Hoffnung nie aufgeben. Das hat mich in Auschwitz am Leben gehalten: meine Neugier, immer wissen zu wollen, was morgen passiert. Es war für mich lebenswichtig zu wissen, dass ich, wenn ich heute überlebe, vielleicht sogar morgen den Jungen sehen werde, den ich liebe. So wurde der Morgen mein Freund und sehr wichtiger Verbündeter.

„Du kannst nicht ändern, was passiert ist, du kannst nicht ändern,
was du getan hast oder was sie dir angetan haben.
Aber du kannst entscheiden, wie du jetzt lebst.
Du kannst dich dafür entscheiden, frei zu sein“,
schreibt sie in ihrem ersten Buch „The Choice“.
Ihre zentrale Botschaft lautet, dass wir selbst
in den schrecklichsten Lebenssituationen
die Wahl zur unserer Einstellung haben.
Wir können unsere Einstellung zur Welt wählen, weil wir unsere Art und Weise, wie wir denken, selbst erschaffen.
Doch was bedeutet innere Freiheit in einer Situation, in der Millionen vor der Entscheidung stehen, entweder ihre Heimat mit einem Rucksack zu verlassen oder zu sterben? Oder sie eben ihre Lieben an der Front verlieren?
Alles, was wir tun können, ist, das Leben von innen nach außen zu leben, anstatt untätig darauf zu warten, dass etwas passiert. Es ist sehr wichtig, dass wir morgens, wenn wir aufstehen und in den Spiegel schauen, den Tag mit der Einstellung beginnen, dass wir auch heute noch etwas zum Weltfrieden beitragen.
Ich wünsche Frieden vom ganzen Herzen und werde daher mit meinen sehr, sehr begrenzten Mitteln alles tun, was ich kann. Ich arbeite mit jungen Menschen, die in meine Fußstapfen treten wollen, und es ist mir eine Ehre, dass viele mich als ihr Vorbild betrachten. Die Hoffnung sollte nie ganz aufgegeben werden. In der Hoffnungslosigkeit Hoffnung zu finden, ist eine Art Kunst, und Sie (die Menschen in Ungarn/Mitteleuropa) sind auch sehr gut darin.
Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit finden
Es ist also wichtig, Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit zu finden, um zu überleben. Aber sehen Sie nicht, dass es eben manchmal Zeiten gibt, in denen es Zeit für Traurigkeit, Verzweiflung oder sogar Wut ist?
Je mehr Sie erleben, dass Sie eine innere Wahl haben, desto weniger werden Sie sich als Opfer fühlen. Ich wurde zum Opfer gemacht, aber ich war kein Opfer. Meine Identität wird nicht dadurch bestimmt, und ich bin nicht gleichzusetzen mit dem, was die Nazis gegen mich begangen haben.
„Ihr könnt mir alles antun,
aber ihr habt nie in der Hand
wie ich darauf reagiere.“
(Viktor E. Frankl)
Wie man aus unserem Interview vor anderthalb Jahren erfahren konnte, hatten Sie eine lange und schwierige spirituelle Reise, bis Sie es geschafft haben, sich dem Trauma zu stellen, wodurch Ihre Genesung beginnen konnte.
Ich glaube nicht, dass es eine Vergebung ohne Wut gibt. Du musst es aus dir herausschreien. Man darf die Wut nicht mit Beruhigungsmitteln ersticken, denn in Wirklichkeit trauern wir nicht um das, was passiert ist, sondern um das, was hätte passieren können. Ich habe zum Beispiel meine Pubertät verpasst, also die Lebensphase, in der man einen Jungen kennenlernt, sich verliebt, sich von ihm trennt und dann mit einem anderen ausgeht...
Ich bin jetzt 94, aber mein Alter tangiert mich nicht, weil ich mich heute noch jung fühle. Ich versuche, aus den Lektionen des Lebens zu lernen. Emotionale Intelligenz ist ohnehin oft wichtiger als der IQ. Die Universitäten sind voll von blitzgescheiten Leuten, die aber nicht fähig sind, z.B. Gurken bei einem Greissler zu finden. Sie haben nicht die natürliche Fähigkeit, sich zu orientieren. Leider erwiesen sich solche Menschen auch in Auschwitz nicht als gute Überlebende und gaben sehr schnell auf. Deshalb habe ich Eltern immer gesagt, sie sollen ihre Kinder nicht verwöhnen.
Und wie lässt sich Verwöhnung vermeiden, wenn inzwischen alle Eltern ihrem Kind ein sicheres und angenehmes Leben ermöglichen wollen?
Es lohnt sich, Jean Piaget zu lesen, der eine wichtige Theorie über die Entwicklungsstufen einzelner Lebensabschnitte aufgestellt hat. Ich bin zum Beispiel immer Schritt-für-Schritt von einem Punkt zum anderen gelangt und eines Tages habe mich als Dr. Eger wiedergefunden. Dann wurde mir klar, dass mir meine ganze Jugendzeit genommen wurde, also ging ich zurück nach Auschwitz. Ich musste zurückgehen, um mich dem Löwen zu stellen und meine Unschuld wiederzuerlangen.
Ich denke, eine solche Rückschau ist wichtig, um eine Richtung in unserem Leben zu bestimmen - gerade jetzt, vor Ostern, wo es auch um Neuanfänge geht, nicht in die Vergangenheit abzuschweifen. Ich bin zuversichtlich, dass wir, anstatt gespalten zu sein, in der Lage sein werden, uns zu vereinen, indem wir die Weltanschauungen des anderen kennenlernen und respektieren. Du bist so, und ich bin so, aber zusammen sind wir stärker als allein – das ist alles, was man einsehen sollte.
Schon als Häftlinge in Auschwitz konnten wir uns nur aufeinander verlassen, und jetzt ist es nicht anders. Tausende Flüchtlinge aus der Ukraine kommen jetzt an, und es ist beeindruckend, mit welcher Welle der Hilfsbereitschaft sie aufgenommen werden.
Jetzt schauen alle auf die Ukraine und die Flüchtlinge, aber so oder so wird der Krieg eines Tages enden, die Menschen werden in den Alltag zurückkehren. Überlebende und Geflüchtete müssen ihre Traumata überstehen. Wie können nachhaltig unterstützende Bedingungen für die seelische Heilung geschaffen werden? Worauf sollten wir auf individueller und gesellschaftlicher Ebene achten?
Es ist wichtig, dass wir den Schmerz ausweinen...
Weinen ist sehr gesund, denn was wir aus unserem Körper herauslassen, macht uns nicht krank. Für mich ist das Meer dafür da, unser Wohnzimmerfenster blickt aufs Wasser. Ich kann am Ufer spazieren gehen und in den endlosen Ozean schreien. Dann komme ich nach Hause.
Es ist wichtig, dass wir den Schmerz ausweinen, bis uns die Tränen ausgehen. Es gibt keine Medizin, die ein gebrochenes Herz heilen kann. Versuchen Sie nicht einmal, die Trauer zu behandeln – sage ich immer bei meinen Vorträgen zu den Medizinstudenten. Wunderbare Menschen, die immer weniger sofort alles kurieren zu versuchen, weil sie verstehen, dass manchmal das Reden das ist, was helfen kann. Das Gefühl wird herauskommen, aber es wird dazu viel Reden und Zeit benötigt.
Man muss drei Phasen durchlaufen: Trauer, Gefühle und Heilung. Es ist eine lange Reise, es passiert nicht an einem Tag. In Wirklichkeit reicht nicht mal ein ganzes Leben dafür. Ich kam auch noch nicht ans Ende. Der Punkt ist, dass wir in dem, was wir beharrlich üben, mit der Zeit immer besser werden.
Würde es sich also lohnen, uns im Zuhören und in der Hinwendung zu üben, anstatt immer unsere felsenfesten Überzeugungen verbreiten?
Deshalb hat Gott uns zwei Ohren und nur einen Mund gegeben. Weniger reden und mehr zuhören.
Die Flüchtlinge haben jetzt Dinge durchgemacht, die Sie nicht durchgemacht haben. Versuchen Sie also, Vorannahmen loszuwerden. Als ich in Amerika ankam, konnte ich überhaupt kein Englisch. Als ich gefragt wurde, ob ich verstanden habe, was sie sagten, sagte ich „Ja“, obwohl ich oft keine Ahnung hatte.
Was du loslässt, macht dich nicht mehr krank
Ich denke, es wäre wichtig, Orte zu schaffen, an denen Menschen, die in Schwierigkeiten sind, einfach aussprechen können, was sie belastet. Denn was du loslässt, macht dich nicht mehr krank. Wichtig ist auch, dass wir einen trauernden Menschen nicht aufmuntern wollen. Und fragen wir ihn nicht: "Wie geht es dir?"
Was ist die richtige Frage?
Man muss nicht einmal viel fragen, höchstens sagen: "Ich freue mich, Sie zu sehen, wie kann ich Ihnen nützlich sein?" Auch hier ist die Formulierung wichtig. Fragen Sie nicht „Wie kann ich Ihnen helfen?“, sondern „Wie kann ich Ihnen nützlich sein?“. Denn zu viel Abhängigkeit und Verwundbarkeit kann zu Depressionen führen. Sie müssen damit vorsichtig sein.
Es fließt jetzt viel Wohlwollen und Liebe und dann enden die „Flitterwochen“ und man bleibt auf der Strecke mit dem Gefühl „und jetzt?“. Aber das ist immer noch eine viel bessere Frage als die „Warum ich?“, denn bei ersterer geht es um die Gegenwart.
Und wir müssen in der Gegenwart leben, genauso wie wir lernen müssen, uns selbst zu lieben. Schon Jesus sagte: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Darin liegt die tiefe Wahrheit, dass man unfähig ist, andere zu lieben, wenn man sich selbst nicht liebt. Wenn Sie morgens aufstehen, sagen Sie, dass Sie sich selbst lieben: „Ich könnte besser sein, ich könnte schlechter sein, ich bin nicht perfekt, ich bin ein Mensch, ich mache Fehler, aber ich lebe nicht in der Vergangenheit, denn wenn ich eines nicht ändern kann: Es ist die Vergangenheit."
Sie haben auch mit den Vietnam-Veteranen gearbeitet, die ebenfalls schwere Traumata tragen, aber das Weinen und das Ausdrücken von Emotionen im Allgemeinen dürften in dieser männlichen Umgebung noch schwieriger sein.
Es ist sehr schwierig, besonders für die Männer, die normalerweise alle Probleme intellektualisieren und vernünftig lösen wollen. Argumentieren, dies und jenes zu verstehen - ist was für das Klassenzimmer. Ich habe zum Beispiel nie verstanden, warum Dr. Mengele mich aus der Schlange zur Gaskammer gezogen hat, wohin so viele Menschen - auch meine Mutter, die neben mir Stand - geschickt worden waren.
Ich denke, wenn jemand eine Tragödie dieser Größenordnung um jeden Preis verstehen wollen würde, würde er verrückt werden.
"Erzähl mir mehr!"
Und deshalb frage ich nicht gern: „Wie geht es dir?“, und ich sage nicht: „Warum tust du nicht dies oder das?“ Ich möchte keine Ratschläge geben und keine Fragen stellen. Wir müssen erkennen, mit wem wir sprechen und uns dafür eine passende Sprache aneignen.
Dennoch haben wir den instinktiven Drang, jemanden aufzuheitern oder trösten zu wollen, der traurig ist. Ich werde Ihnen sagen, warum dieser Drang schädlich ist. Denn wenn du versuchst, jemanden aufzuheitern, wird er sich schuldig fühlen, weil er nicht das fühlt, was du von ihm erwartest. Seine Stimmung wird also nicht besser und dazu bekommt er noch ein schlechtes Gewissen. Sagen wir einfach: "Erzähl mir mehr!" Nehmen wir uns die Zeit und wiederholen wir, was wir von ihnen gehört haben. Zu verstehen ist hier nicht genug, ich habe dieses Wort nie geliebt. Wir können die Gefühle anderer nicht wirklich verstehen.
Sie haben erwähnt, dass sich die Geschichte tendenziell wiederholt. Ich glaube, dass meine Generation inzwischen das Gefühl entwickelt hat, dass die Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen vorbei ist...
Rückblickend erscheint dies wie offensichtliche Naivität, aber haben Sie diese Illusion jemals geteilt?
Wenn wir nicht aus der Geschichte lernen, ist das ein Problem. Wir gehen zurück und machen dasselbe. Albert Einstein sagte, die Definition von Wahnsinn sei, immer wieder dasselbe zu tun und dabei ein anderes Ergebnis erwarten. Und genau das tun viele Menschen.
Deshalb ist es sehr wichtig, eine Orientierung zu haben, ein Ziel, auf das wir uns zubewegen und auf das wir unsere Aufmerksamkeit richten können. Jede Aktivität, auf die wir uns konzentrieren, bringt uns unserem Ziel näher. Ist das gut für mich? Stärkt oder schwächt es mich? Achten wir auf unsere Empfindungen: Fühle ich mich weich und warm oder kalt und steif?
...deshalb bin ich so wählerisch, wer meine Wut bekommt
Wenn Sie wütend sind, wissen Sie, wer leidet? Sie. Deshalb bin ich so wählerisch, wer meine Wut bekommt. Wenn ich meinen Hass behalten und hüten würde, wäre ich immer noch ein Gefangener. Das wäre eine verschwendete Zeit. Warum sollte Hitler auch noch meinen Hass bekommen?
Sie arbeiten oft mit jungen Leuten. Lernen Sie auch etwas von ihnen?
Ich mag junge Menschen sehr, sie repräsentieren die Zukunft. Ich neige dazu, sie Botschafter des Friedens und des guten Willens zu nennen. Wo immer ich kann, setze ich mich für junge Menschen ein - wenn sie beschimpft werden, sie seien dumm, verantwortungslos, faul. Sie sind wahrscheinlich viel weiser, als wir es in ihrem Alter waren. Wenn es gelingt, zwei oder drei Generationen zusammenzubringen, können sie viel voneinander lernen. Über meiner Arbeit mit Vietnamveteranen kann ich zum Beispiel einiges beibringen. Sie sind immer noch in Vietnam, sie wissen nicht, wie sie von dort aus weitermachen sollen.
Meine Wunden wurden ein Teil dessen, was ich heute bin
Ich lebe nicht in Auschwitz. Ich habe das Tal des Todesschattens durchquert, aber ich habe mich dort nicht niedergelassen. Deshalb nenne ich das, was ich dort erlebt habe, „meine geschätzen Wunden“, weil die ein Teil dessen wurden, was ich heute bin. Ein Teil von mir ist in Auschwitz geblieben, aber das ist nicht mein besserer oder größerer Teil.
Warum haben Sie bis zu Ihrem 90. Lebensjahr damit gewartet, Ihre Geschichte und die daraus gezogenen Lehren in einem Buch mit der Welt zu teilen?
Viele Leute haben mich gebeten, ein Buch zu schreiben, aber ich habe
jahrelang automatisch geantwortet, dass ich nichts zu sagen habe. Dann rief Philip Zimbardo (Anm: US-amerikanischer Professor für Psychologie) eines Morgens an und sagte: „Edie, die
bekannt gewordenen Überlebenden sind Männer, einer nach dem anderen. Wir brauchen eine weibliche Stimme.“ Das war alles, was ich brauchte. Diese Entscheidung hat mich so gewissermaßen
zur weiblichen Stimme von Viktor Frankl gemacht.

Nach dem ersten Buch sagten viele Leute, wir bräuchten etwas Praktischeres. So entstand das nächste Buch The Gift - „Das Geschenk / 12 Lektionen für ein besseres Leben“.
Die ohnehin große Nachfrage nach den Selbsthilfebüchern hat sich während der Pandemie durch die allgemeine Angst verstärkt. Durch unsere Gedanken können wir die Angst in Aufregung verwandeln. Was wir uns vorstellen, ist gewissermaßen erschaffen.
Aufgrund dieser Logik funktionieren auch die selbsterfüllenden Vorhersagen. Der Pessimist ist davon überzeugt, dass bei allem, was er tut, am Ende sowieso alles schief gehen wird. Der Optimist glaubt das Gegenteil, dass die Dinge gut enden werden und wir lernen, unterwegs Fehler zu vermeiden. Ich bin ein unausweichlicher Optimist.
Und wie verhalten sie sich in Bezug auf Realismus?
Oh, ich bin sehr realistisch, keineswegs idealistisch. Denn wenn der Idealist nicht das bekommt, was er will, kann er furchtbar zynisch werden. Das ist vielen schon passiert.
Jeder Augenblick ist ein Geschenk
Denken Sie, daß wir in den letzten Jahren bewiesen haben, dass wir die Angst in Aufregung verwandeln können?
Ich denke, wir alle konnten Dinge in uns entdecken, von denen wir vorher nicht wussten, dass wir sie haben: Belastbarkeit, Flexibilität, Durchhaltevermögen – nicht aufzugeben, abzuwarten, was jetzt kommt. Deshalb ist meine Wohnung voller Schmetterlingsmuster. Ich liebe die Metapher, wie eine Raupe ihre Haut loswird, damit sie sich in einen Schmetterling verwandelt und frei fliegen kann. Aber ich habe festgestellt, dass der Schmetterling auch nicht sofort fliegt, sondern den Bewegungsablauf vorher mindestens fünfzig Mal geübt hat.
Lasst uns wie ein Schmetterling werden! Überlegen wir, was wir mitnehmen wollen und was wir bereit sind, unterwegs loszulassen. Liebe ist für mich nichts anderes als die Fähigkeit loszulassen. Wir geben unser Bedürfnis auf, dass uns jeder bewundert und unsere Handlungen bestätigt. Das bedeutet nicht, dass wir zwangsläufig abgelehnt werden. Ablehnung ist nur ein beängstigendes Wort, das bei Menschen das Gefühl hervorruft, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen. Niemand kann mich ablehnen außer mir selbst. Der Trick besteht darin, darauf zu achten, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.
"Ich werde nicht fragen, was die Welt mir gegeben hat,
sondern:
was konnte ich der Welt geben..."
(Edith Eva Eger)
Worin finden Sie in letzter Zeit die größte alltägliche Freude?
Wenn ich morgens aufstehe, bin ich einfach überwältigt von dem Glück, das ich lebe. Mit 94 Jahren am Leben zu sein, ist an und für sich erstaunlich und ich weiß, daß ich auch auf meinem Sterbebett glücklich sein werde.
Ich werde nicht fragen, was die Welt mir gegeben hat, sondern: was konnte ich der Welt geben, damit niemand das, was ich erlebt habe, erneut erleben muss?
Haben Sie auch keine Angst vor dem Tod?
Ganz und gar nicht. Jeder Augenblick ist ein Geschenk.
Ich sehe nichts als selbstverständlich an und nie werfe ich das kleinste Stück Brot weg.
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* Der Beitrag ist eine leicht gekürzte und adaptierte Version des am 12.03.2022 veröffentlichten Interviews.
© Übersetzung & Blog-Adaptation: Klara Zinke